Reise der verlorenen Erinnerungen – Lost Sphear im Test
Lost Sphear ist das neuste Old School JRPG der Tokyo RPG Studios. Man merkt dem Spiel an, dass sich die EntwicklerInnen die Kritik am spirituellen Vorgänger, I Am Setsuna, zu Herzen genommen haben. Ob das reicht, um Lost Sphear zu einem Kauftipp zu machen? – Das erfahrt ihr in meinem Test.
Gegen das Vergessen
In Lost Sphear begleiten wir den jungen Helden Kanata und seine Mitstreiter auf einer weltumspannenden Suche nach Erinnerungen. Eines Tages verschwindet Kanatas Dorf plötzlich auf mysteriöse Weise und hinterlässt buchstäblich einen weißen Fleck auf der Landkarte, während der Junge mit seinen Freunden beim Fischen ist. Da entdeckt Kanata, dass er eine besondere Gabe besitzt: Er ist in der Lage, Erinnerungen zu sammeln und sie einzusetzen, um verlorene Orte, Gegenstände oder Personen wieder zurückzuholen. Schnell wird klar, dass nicht nur Kanatas Heimatsort von dem ominösen Vergessen betroffen ist. Also zieht er mit seinen Freunden los, um anderen zu helfen und dem Mysterium auf den Grund zu gehen.
Die Idee mit den verlorenen Erinnerungen ist zu Beginn recht interessant und dennoch stellte sich bei mir spätestens nach ein paar Stunden Fadesse ein. Das liegt zum einen an den eindimensionalen, klischeebehafteten Hauptcharakteren, zum anderen daran, wie zäh die simple Handlung voranschreitet. Auch reagieren die Spielfiguren von Beginn an so unnachvollziehbar, dass ich mich nie mit ihnen verbunden fühlte. – Ein Beispiel: Kanata und seine Freunde entdecken zu Beginn, dass sich ihre Heimat plötzlich in Luft aufgelöst hat. Was tun sie? Sind sie entsetzt, über das, was da eben passiert ist? Bekommen sie Panik? Weinen sie? – Nein. Sie reagieren völlig kühl und suchen einfach nach einer Lösung. Als nächstes taucht ein fremder, mysteriöser Mann mit bodenlanger schwarzer Kutte vor ihnen aus dem weißen Nichts auf, das gerade vorher noch ihr Dorf gewesen war. Was tun sie? Fragen sie den Typen aus? Verdächtigen sie ihn? Nehmen Sie sich vor ihm in Acht? – Nein. Sie nehmen ihn unverzüglich in ihre Gruppe auf.
Da kann ich meine Brille abnehmen und anschließend beide Augen fest zukneifen, ich kaufe ihnen diese Reaktionen trotzdem nicht ab! – Ja, die Geschichte wird ein bisschen glaubwürdiger, sobald aus den Teenagern wirklich erfahrene Abenteurer werden und man ihnen die Nonchalance abnimmt. Ans Herz gewachsen, sind sie mir aufgrund ihrer papierdünnen Persönlichkeiten jedoch bis zum Schluss nicht.
Undramatische Perspektive
Auch die gewählte Präsentation des Spiels ist einer spannenden Geschichte nicht unbedingt zuträglich. Lost Sphear präsentiert sich in einer übersichtlichen Isoperspektive. Damit behält man in Kämpfen gut den Überblick und bekommt einen schönen großen Ausschnitt von der Spielumgebung zu sehen, doch die Dramatik bei Dialogen und wichtigen Handlungspunktengeht bei dieser Ansicht weitestgehend verloren. Man kann die Mimik der winzigen Figuren nicht erkennen; sie bewegen sich während dieser Sequenzen steif und reagieren stark verzögert.
An dieser Stelle noch ein paar Worte zu meinem persönlichen „Pet-Peeve“: Es war keine gute Idee, die riesigen blauen Textboxen (die mit ihrem steril-minimalistischen Design übrigens gar nicht in die Spielwelt passen), stets mitten im Bild erscheinen zu lassen. So wird in jedem Dialog zu fast jedem Zeitpunkt die Hälfte der Gruppe verdeckt. Es mag wie eine Kleinigkeit erscheinen, aber eine, die mich während jedem Gespräch gestört hat.
Dass die Hauptstory und deren Umsetzung so enttäuscht, fällt deshalb so ins Gewicht, da es die einzige Erzählung ist, die das Spiel zu bieten hat. Nebenmissionen gibt es keine. Abstecher in noch nicht besuchte Gebiete sind zwar prinzipiell möglich, aber nicht sinnvoll, da einen die Geschichte früher oder später ohnehin dorthin führen wird.
Weichgezeichneter Traum
Deutlich besser kommt das audiovisuelle Design weg. Die weichgezeichnete, recht detaillierte Welt ist stets hübsch anzusehen und bietet deutlich abwechslungsreichere Gebiete, als noch I Am Setsuna. Auch der unaufdringliche Soundtrack überzeugt größtenteils mit sanften, klassischen Klängen.
Spielmechaniken ganz klassisch
Nicht nur mit der simplen Geschichte, auch was die Spielmechaniken angeht, bleibt Lost Sphear größtenteils dem Genre klassischer JRPGs treu.
Wir bewegen unsere Gruppe, die stets maximal aus vier Leuten besteht, über eine stilisierte Weltkarte, von der aus man einzelne Areale betritt. Auf der Weltkarte selbst, gibt es nicht allzu viel zu tun. Da dort keine Kämpfe stattfinden, verkommt sie fast zum glorifizierten Levelauswahlbildschirm. Hier und da kann man ein Item aufsammeln, oder an dafür vorgesehenen Plätzen sogenannte Artefakte erstellen, die teilweise kleine Boni in Kämpfen oder allgemeine Annehmlichkeiten bieten. Die Kampfboni waren nette Zusätze, doch die allgemeinen Komfortelemente, wie schnelleres Gehtempo auf der Weltkarte oder eine Minimap für die Oberwelt, hätte ich mir von vornherein im Spiel gewünscht.
Eine Schnellspeicherfunktion sowie die Möglichkeit Storysequenzen vorzuspulen sind weitere „moderne“ Annehmlichkeiten, die von Beginn an im Spiel verfügbar sind. Auch das genretypische Grinding sucht man in Lost Sphear (zum Glück!) vergebens. Die Dungeons sind allesamt recht linear aufgebaut. Hier und da gibt es mal eine kleine Abzweigung mit einem zusätzlichen Kampfszenario oder einer Schatzkiste, doch verlaufen kann man sich nicht. Auch auf Zufallskämpfe wurde verzichtet. Stattdessen sieht man die Gegner bereits von der Ferne; erst, wenn man ihnen nahe genug kommt, beginnt der Kampf.
In Städten kaufen wir unseren HeldInnen bessere Ausrüstung und verstärken diese mit Orbs. Auch Spezialfähigkeiten, Heiltränke und alle möglichen anderen Items lassen sich hier besorgen. Neben Geld, können auch allerlei gefundene Items wie Essenszutaten oder Erinnerungen als Währung für bestimmte Dinge verwendet werden. Insbesondere Erinnerungen werden für viele Dinge benötigt: Um Artefakte auf der Weltkarte herzustellen, Skills zu kaufen oder um „verlorene“ Orte und Dinge wieder zurückzuholen. Erinnerungen können entweder einfach in der Welt aufgesammelt werden, werden von besiegten Monstern hinterlassen oder müssen aus Inschriften oder Gesprächen erschaffen werden.
Klasse Kampfsystem
Kämpfe laufen in einer Art Active-Time-Battle-Modus ab, wie man es zum Beispiel von Final Fantasy VII oder Chrono Trigger kennt. Jede Kämpferin und jeder Kämpfer hat einen Aktionsbalken, der sich mit der Zeit füllt. Ist der Balken voll, kann eine Aktion ausgelöst werden: Angriff, Spezialfähigkeit oder ein Item benutzen. Schnellere Charaktere kommen somit öfters zum Zug und Zeitmanagement spielt eine wichtige Rolle. – Das System kann einem zu Beginn schon mal hektisch oder unübersichtlich vorkommen, doch man gewöhnt sich schnell ein und nach einer Weile geht es leicht von der Hand. Dann erkennt man, dass das ATB-System deutlich dynamischer und spaßiger ist als starre Rundenkämpfe.
Taktischer werden die Gefechte dadurch, dass man seine Spielfiguren für ihre Angriffe frei am Feld positionieren kann. Geht man klug vor, können Fernkämpfer so mit einem Schlag auch mehr als einen Gegner treffen. Nur zu Beginn des Kampfes verteilen sich die Figuren automatisch am Feld, meiner Meinung nach auch des Öfteren recht unklug. Nach welchem Muster dies geschieht, konnte ich bis zum Schluss nicht durchschauen.
Nach dem Kampf gibt es natürlich Erfahrungspunkte, Geld und Items. Die HeldInnen werden also nicht nur durch bessere Ausrüstung, sondern auch durchs Kämpfen stärker. Grinding ist wie gesagt, an keiner Stelle erforderlich, jedoch fallen die Bosskämpfe in der Regel recht knackig aus und man wird wohl das ein oder andere Mal den Game-Over-Screen zu Gesicht bekommen.
Jede Menge Spezialfähigkeiten
Zusätzlich zu den oben erwähnten Aktionsmöglichkeiten steht allen Charakteren ein „Momentummode“ zur Verfügung, der sich während des Kampfes auflädt und für mehr Schaden eingesetzt werden kann. Allerdings hakt die Bedienung schon mal: Um die Fähigkeit zu aktivieren muss man zuerst den normalen Angriff bestätigen und gleich darauf mit einer anderen Taste den Momentummodus einleiten, was des Öfteren einfach nicht registriert wurde. Den Angriff mit dieser Fähigkeit auf eine eigene Taste zu legen, hätte diese Probleme einfach behoben.
Die Spezialfähigkeiten werden in Lost Sphear als „Spritnites“ bezeichnet. Jeder Charakter kann eigene Spritnites ausrüsten und im Kampf einsetzen. Die Spritnites können mit einer Sekundärfähigkeit erweitert werden. Sodass z.B. Kanata jedesmal ein bisschen geheilt wird, wenn er seine Windklinge einsetzt. Diese Fähigkeiten kosten eine gewisse Anzahl Fähigkeitspunke, sind also nicht unbeschränkt einsetzbar.
Und dann gäbe es da noch die Kampfanzüge „Vulcosuits“, die beschränkt gegen „Vulcopoints“ eingesetzt werden können und einen für die Verwendungsdauer deutlich stärker und robuster machen.
Zu viel des Guten
Ihr merkt es wahrscheinlich schon an der Länge dieses Tests: Lost Sphear ist mit vielen kleinen Zusatzmechaniken vollgestopft: Verbesserte Waffen mittels Orbs, den Spezialfähigkeiten Spezialfähigkeiten zuweisen, kleine Boni durch Artefakte, mehr Stärke durch Vulcosuits, der Momentummodus,… Ein paar dieser Systeme zu streichen hätte dem Spiel gutgetan; vor allem, da sie das Spielgefühl insgesamt nur marginal beeinflussen und Lost Sphear mit seiner 25-stündigen Laufzeit dadurch vollgestopft wirkt.
Kaum erinnerungswürdig
Ja, im Vergleich mit dem vorherigen Werk der EntwicklerInnen, wurden in Lost Sphear einige Kritikpunkte ausgemerzt: Es gibt nun schön abwechslungsreiche Gegenden und einen Soundtrack, der abwechslungsreich genug ist, um einen nicht auf die Nerven zu gehen. Das Kampfsystem macht Laune und im Vergleich zu seinen großen Vorbildern hat Lost Sphear mit dem Schnellspeichersystem, dem Abschaffen von Zufallskämpfen und Grinding gute Neuerungen eingeführt. Doch für ein rundum unterhaltsames Spiel hätte es mehr sein müssen: Interessantere Hauptfiguren und eine spannendere Geschichte, die besser inszeniert wird und deutlich schneller in die Gänge kommt – vor allem in einem Rollenspiel, das ausschließlich die Hauptgeschichte zu bieten hat. Auch eine Entschlackung der Spielmechaniken wäre begrüßenswert.
Genrefans und Liebhaber des Vorgängers können mit Lost Sphear den releasearmen Winter sicher ein wenig überbrücken, doch seien wir uns ehrlich: Es gibt Besseres da draußen.