A Normal Lost Phone im Test
Seid ihr schon mal misstrauisch geworden, wenn Leute eindrücklich betonten, dass der Inhalt von etwas völlig banal, unaufregend und überhaupt nicht geheim sei? In dieser Hinsicht ist A Normal Lost Phone wohl der verdachterregendste Titel, den man für das mobile Spiel wählen konnte. Und der Verdacht bewahrheitet sich, denn auf diesem Handy finden sich einige höchst private und pikante Informationen.
Ein herrenloses Smartphone
Ich finde ein Smartphone auf der Straße. Es sieht unversehrt und ziemlich neu aus. Da es nicht versperrt ist, beginne ich, Kalendereinträge und SMS zu lesen. Zunächst erhalte ich den Eindruck, das Handy eines ganz normalen Teenagers namens Sam in den Händen zu halten. Ich finde Nachrichten von Schulfreunden, Mitgliedern einer Brettspielgruppe, seinen Eltern und anderen Verwandten. Doch bald merke ich, dass etwas nicht stimmt: Verzweifelte SMS bezeugen, dass Sam an seinem achtzehnten Geburtstag plötzlich verschwunden ist. Also stöbere ich weiter, um der Sache auf den Grund zu gehen, und stoße dabei auf überraschende Wahrheiten über Sams Familie, Sam selbst und sein abruptes Verschwinden.
A Normal Lost Phone macht kein Geheimnis um seine Inspirationsquellen. Die Thematik des Spiels sowie die schuldbewusste Lust des In-fremden-Dingen-kramen-die-einen-eigentlich-nichts-angehen erinnern mich stark an Gone Home. Die sanften Indie-Folk-Klänge des Soundtracks hingegen ließen mich sofort an Life is Strange denken. Dass sich unter den SMS-Konversationen auch eine Chloe befindet, deren Profilbild ein Mädchen mit kurzen blauen Haaren und Blumentattoos zeigt, ist ebenfalls ein mehr als deutliches Augenzwinkern in Richtung des Videospiels von Dontnod. Wer also mit einem dieser beiden Spiele etwas anfangen konnte, dem wird A Normal Lost Phone höchstwahrscheinlich ebenfalls gefallen.
Besser auf Smartphone als auf PC
Zunächst muss ich loswerden, wie clever alle Menüpunkte in die Smartphone-Oberfläche verpackt sind. Der oben bereits erwähnte Soundtrack kommt aus dem Music-Player des Handys, und unter den Einstellungen des Smartphones kann man die Spieleinstellungen regulieren. Auch wenn das Spiel auf Steam erhältlich ist, ist A Normal Lost Phone deutlich auf mobile Geräte zugeschnitten. Es auf dem eigenen Smartphone zu spielen, trägt deutlich zur Immersion bei, tatsächlich ein eben gefundenes Handy in der Hand zu halten.
Die Limitierungen des Spiels wurden größtenteils schlüssig umgesetzt: Dass die Anzahl der Apps und Konversationen auf Sams Smartphone überschaubar ist, liegt daran, dass er es gerade einmal zwei Monate besessen hat. Und dass man Passwörter fürs Internet und diverse Accounts erst finden beziehungsweise mithilfe von Hinweisen erraten muss, steuert geschickt, wann man in der Story fortschreitet.
Etwas unglücklich ist, dass, obwohl die Geschichte in den Vereinigten Staaten spielt, Daten (Mz. von Datum) in der europäischen Schreibweise angezeigt werden, für Passwörter jedoch in der amerikanischen Schreibweise eingegeben werden müssen. Einige anfängliche Nachrichten wirkten auf mich ebenfalls etwas gekünstelt detailliert, um uns als Spieler mit genügend Grundinformationen zur Handlung zu versorgen. Im Großen und Ganzen gibt es an der Erzählweise jedoch nichts auszusetzen.
Überraschend vielschichtig
„Nichts auszusetzen“ klingt für das, was A Normal Lost Phone bietet, eigentlich viel zu negativ. Die SMS, die man zu Beginn liest, lassen alle Charaktere auftreten und ihre Persönlichkeit wie Bindung zu Sam rasch erkennen. Da hätten wir die konservativen Eltern, den halblustigen Onkel, nutznießende Klassenkameraden oder die tief enttäuschte und wütende Ex-Freundin. Die Texte verraten uns ebenso einiges über Sam selbst sowie über seine Freunde und Verwandten. Längst nicht alle Texte treiben die Geschichte voran, was die Illusion, ein echtes Smartphone zu durchstöbern, zusätzlich verstärkt. Angedeutete Dramen und abrupt auftretende Konflikte, deren Ursache wir nicht kennen, lassen uns neugierig werden. Wir arbeiten uns also vor, lesen E-Mails, loggen uns in Accounts von Dating-Apps und stoßen auf interessante Internetforen. Dabei erhalten wir immer mehr Antworten auf unsere zahlreichen Fragen und Vermutungen, ehe wir nach etwa zwei Stunden genau wissen, was mit Sam geschehen ist und warum.
Das Spiel taucht in Themen zu sexueller Identität und Selbstfindung ein, die ich hier nicht näher erläutern möchte, um niemandem die wunderbaren Überraschungen der Geschichte zu verderben. Nur so viel: Ich war positiv überrascht davon, wie ernst, informativ und vielschichtig dieses Thema in einem so kurzen Spiel behandelt wurde.
Fazit
Gibt es ein Lost-Phone-Genre? Oder ein Ich-stecke-meine-Nase-in-Dinge-die-mich-nichts-angehen-Genre? Wenn nicht, dann wird es höchste Zeit dazu! A Normal Lost Phone zeigt, dass mobile Spiele viel mehr können, als grantige Vögel auf labile Bauklötzchen-Konstruktionen zu schießen oder bunte Kügelchen nach Farben zu sortieren.