Aus der Zeit gefallen – Cris Tales im Test
Wer hat an der Uhr gedreht?
Wüsste ich nicht, dass Cris Tales von den kolumbianischen Indiestudios Dreams Uncorporated und Syck entwickelt wurde, hätte ich es glatt für ein japanisches Werk gehalten. Denn das Spiel hat sich viele Elemente von JRPG-Klassikern wie Tales of Phantasia oder den frühen Final Fantasy-Titel abgeschaut:
- eine seichte Handlung, in deren Verlauf die Welt gerettet werden muss
- eine Heldentruppe, die aus Kindern besteht
- ein gemächlicher Einstieg, der über mehrere Stunden hinweg immer neue Spielmechaniken einführt.
- eine isometrische Weltkarte, von der aus man Dungeons und Städte betritt
- Gameplay-Loop bestehend aus: ausführlich mit NPCs quatschen, dann losziehen und Monster kloppen, rinse & repeat
- rundenbasierte Zufallskämpfe
- orchestrale Hintergrundmusik
- und, und, und…
Wie viel Spaß man mit Cris Tales hat, hängt also zum guten Teil davon ab, wie wohlwollend man den Eigenheiten klassischer JRPGs gegenüber steht. Wer sich nicht damit abfinden will, nur an ausgewählten Orten speichern zu können oder dass sich komplett unterschiedliche Gegnertypen nur durch ihre Farbe voneinander unterscheiden, wird mit diesem Spiel wahrscheinlich nicht glücklich werden.
Heute ist das Gestern von Morgen
Ich verspüre genügend Nostalgie für das Genre, um mich von den gut abgehangenen Spielelementen nicht stören zu lassen. Zudem hat Cris Tales mit den zeitmanipulierenden Fähigkeiten der Protagonistin Crisbell auch etwas Neues im Gepäck. Diese Zeitkräfte kommen einerseits in den Kämpfen, andererseits auch für kleine Umgebungsrätsel oder in Handlungsmissionen zum Einsatz.
Im Kampf kann Crisbell ihre Gegner in die Zukunft oder Vergangenheit verfrachten. Das eröffnet Kombomöglichkeiten mit ausgewählten Spezialfähigkeiten ihrer Mitstreiter: So kann der Naturmagier der Truppe eine Giftpflanze in der Vergangenheit setzen, deren Effekt dann in der Gegenwart ausgelöst wird. Da jeder Widersacher in drei Zeitstufen existiert, kann man sich den Kampf auch hin und wieder erleichtern, wenn man die Monster in eine andere Zeit schickt. Das mag alles spaßig klingen, funktioniert allerdings eingeschränkter, als ich mir erhofft habe: Nur Gegner auf der linken Bildschirmseite können in die Vergangenheit geschickt werden und nur der rechte Rand kann zur Zukunft werden. Dadurch werden die Monster bei einer Zeitreise allerdings oft mächtiger und das Gefecht mühseliger. Auch gibt es nur wenige Spezialfähigkeiten, die sich gut mit dem Zeitzauber verbinden lassen. Beides führte dazu, dass ich Crisbells Zeitkräfte letztendlich nur selten im Kampf eingesetzt habe.
Ebenso hätte ich mir gewünscht, dass den Zeitkräften im Storyteil eine bedeutendere Rolle zukommt. Man kann zwar an ausgewählten Orten in anderen Zeitebenen nützliche Items finden oder wenige, vom Spiel ausgewählte, Dinge mit der Zeit manipulieren (z.B. Säulen verwittern lassen oder reparieren), doch leider bleibt der Einsatz der Mechanik bis zum Schluss hin seicht.
Warum dauert das so lange?
Ein weiterer Kritikpunkt von mir sind die häufigen Ladezeiten. Keine einzige davon fällt besonders lang aus, aber ihre hohe Frequenz kann schon an den Nerven nagen. Warum dauert das Laden eines jeden Zufallskampfes eklatant länger, als 1996 in Pokémon?
Ist man dann mal im Kampf gelandet, erwartet SpielerInnen größtenteils JRPG Standardkost: Rundenbasiert verkloppt man Gegner und setzt die Spezialfähigkeiten der Charaktere ein. Jeder Gegnertypus hat seine individuellen Stärken und Schwächen bestimmten Naturelementen gegenüber. Um den Kampf ein bisschen dynamischer zu gestalten, kann man im rechten Moment ein Knöpfchen drücken, um mehr Schaden zu verursachen oder um gegnerischen Schaden zu blocken. Abgesehen von einigen Bossgegnern bietet das Kampfsystem allerdings wenig Abwechslung. Ein kleines Lob möchte ich jedoch noch dafür aussprechen, dass man in Cris Tales gut zurecht kommt, ohne Erfahrungspunkte zu grinden!
Wie war das noch mal?
Dass ich bis jetzt kein Wort über die Handlung von Cris Tales verloren habe, ist ein gutes Indiz dafür, wie belanglos sie ist. Eigentlich lässt sich das Geschehen völlig generisch zusammenfassen: Die Welt wird von einem übermächtigen Böserich bedroht und eine Heldengruppe zieht aus, um diesen aufzuhalten. Auf ihrer Reise lernen die jungen Abenteurer viele Verbündete kennen und reifen an ihren Erlebnissen, ehe sie stark genug sind, das Übel zu bezwingen.
Aber gut, ich will euch auch den tatsächlichen Handlungsbeginn nicht vorenthalten: Crisbell pflegt hingebungsvoll die Rosen im Garten des Waisenhauses, das sie bewohnt. Da hüpft ein Frosch mit Zylinder vorbei und mopst eine der hübschen Blumen. Cris will das Gewächs unbedingt wiederhaben und verfolgt den quakenden Dieb quer durch die Stadt. Schließlich führt sie der Weg in die alte Kathedrale, auf deren Altar nun die gesuchte Rose liegt. Crisbell nähert sich der Blume, was anscheinend die Kristalle der Zeit öffnet und ihr plötzlich Macht über Vergangenheit und Zukunft verleiht.
Joaa, macht voll Sinn…
Obwohl ich normalerweise recht großen Wert auf die Story in Spielen lege, hat es mich bei Cris Tales nicht sonderlich gestört. Vielleicht weil ich es von alten Genreklassikern sowieso gewohnt bin, dass die gesamte Prämisse auf einen verpixelten Bildschirm passt? Oder vielleicht weil ich viel zu beschäftigt bin, das kreative Charakterdesign und die hübschen Hintergründe zu bewundern?
Mein Fazit zu Cris Tales
Ich habe zwar einige Kritikpunkte an Cris Tales, habe mich aber als alte JRPG-Veteranin gut unterhalten gefühlt. Das Spiel möchte eindeutig eine Hommage an klassische japanische Rollenspiele sein, was ihm gelingt – alte Genrelaster inklusive. Man muss schon ein Faible für diese Art von Spiel mitbringen. Doch wenn man mit einem aktuellen Titel mal wieder so richtig nostalgisch werden möchte, würde ich Cris Tales eher empfehlen, als so manch andere populäre Wiederbelebungsversuche des Genres (Lost Sphear, I am Setsuna).