Disco Elysium The Final Cut Review: Viva la revolución!?
Bereits zum Erstrelease 2019 wurde Disco Elysium als fantastisches Rollenspiel gefeiert. Nun kehrt der Titel in polierter Variante auf die Zocker-Bildschirme zurück. In unserem Disco Elysium The Final Cut Review erläutern wir, wie überzeugt wir vom sogenannten Directors Cut des Rollenspiels sind. Gespielt haben wir das Game für euch auf der Playstation 4, auf welcher ZA/UMs neuestes Werk nun auch erstmalig spielbar ist.
Daten und Fakten zum Game
- Datum der Erstveröffentlichung: 15. Oktober 2019 bzw. 30. März 2021 (Final Cut)
- Genre: Rollenspiel bzw. CRPG (Computer Role-Playing Game)
- Spielmodus: Einzelspieler
- Plattformen: Microsoft Windows, macOS, Playstation 4 und 5, Google Stadia
- weiters angekündigt für: Nintendo Switch sowie Xbox Series X
- Altersfreigabe: PEGI 18, USK 16
- Entwickler und Publisher: ZA/UM bzw. Humble Bundle
- Preise: 39,99 Euro (bei Steam), 39,99 Euro (Playstation Store)
- Sprachen/Texte: Deutsch, Englisch, Französisch, Chinesisch, sowie weitere
Disco Elysium The Final Cut Review- es lebe die Revolution!?
Raus aus dem Koma, rein ins Delirium
Mit der rauen Stimme eines Batman-Bösewichts holt uns das Reptilienhirn aus dem Nirvana zurück. “Aber eigentlich können wir auch gleich liegen bleiben, wir sind eh schon so gut wie tot! So belästigen wir wenigstens nicht die Menschheit mit unserer Existenz.”. Wäre diese Hiobsbotschaft nicht schon schlimm genug, meldet sich auch gleich unser limbisches System zu Wort. “Aufwachen! Die Welt da draußen wartet darauf von uns erobert zu werden.”
Widerwillig – auch wegen unserem Kater – erheben wir uns noch immer sturzbesoffen in unserem Hotelzimmer. Wir können kaum normal gerade ausschauen (unser Gesicht ist vom Alkohol komplett zugeschwollen), wir sind in jeglicher Hinsicht ein totales Wrack und darüber hinaus können wir uns an absolut nichts mehr erinnern – nicht einmal an unseren Namen. Also gut, Zeit aufzubrechen! Zeit, die Welt von Disco Elysium im Sturm zu erobern. In der Folge gilt es als Detektiv einen brutalen Mordfall zu lösen.
Aber anstatt uns in diesem ambitionierten Rollenspiel gleich Hals über Kopf in einen ersten Kampf zu stürzen, müssen wir einmal – und ich zitiere das Spiel an dieser Stelle – “unseren Scheiß zusammenbekommen”. Seinen Scheiß zusammenbekommen – das heißt in der Stadt Revachol (angeleht an den französischen Anarchisten Ravachol) an dieser Stelle überhaupt erstmal unsere Kleidung zu finden. Diese ist über das komplett verwüstete Hotelzimmer verstreut – unsere Krawatte finden wir etwa verheddert am Deckenventilator.
Eine der ersten Quests lautet wie folgt: finde Alkohol und kipp ihn dir rein! Auftraggeber: unsere eigenen Elektrochemie. Nachdem ich mich mit der anfangs etwas gewöhnungsbedürftigen Playstation-Steuerung vertraut gemacht habe – in engen Arealen wie Treppenhäusern etwa ist diese hakelig und unpräzise – begebe ich mit pflichtbewusst auf die Suche. In der Aula unserer Absteige finde ich eine brauchbare Alk-Lache von der Party letzte Nacht. Ich lecke an der Lache – nur ein bisschen wie mich das Spiel wissen lässt. “Hallelujah!” meldet sich die Elektrochemie in uns.
Rollenspiel wie aus den 90ern
Schnell wird klar, Disco Elysium ist keines dieser modernen RPGs mit unausgefeiltem Skillsystem und dafür umso stumpferen Dialogen. Nein! ZA/UM setzt auf bewehrte Mechaniken aus einer längst vergangenen Epoche von Videospielen. Ein vergleichbares Game, welches mir während meiner ersten Stunden Spielzeit immer wieder in den Sinn kam, war das Ende der 90er bei vielen Rollenspiel-Gurus gefeierte Planescape Torment. Und soviel sei schon einmal vorweggenommen: den Vergleich braucht unser in Alkohol und Drogen getränkter Titel auf keinen Fall zu scheuen.
In Disco Elysium warten wir vergebens auf stattfindende Kämpfe. Die wären auch total verschwendet, denn unsere Fähigkeiten, in welche wir nach einem Level-Up investieren können, sind weder die heutzutage klassischen Stärke, Geschicklichkeit, Intelligenz, oder etwa Glück. Stattdessen greifen die Entwickler auf viel realitätsnahere Eigenschaften eines Menschen zurück.
Wie auch sonst in Rollenspielen schließen wir Quests ab und bekommen dadurch Erfahrungspunkte. Haben wir davon genug eingeheimst, steigen wir einen Level auf und können den so gewonnen Fähigkeitspunkt in die Verbesserung unserer Werte stecken. Zur Auswahl stehen die 4 Hauptkategorien Intellekt, Psyche, Physis und Motor, welche sich jeweils in 6 Unterpunkte aufteilen. Vor dem eigentlichen Spiel entscheiden wir uns zudem, welchen Charakter wir ungefähr zocken wollen.
Spielen wir einen hochintelligenten Mathematiker, der aber dafür beim Anblick einer hübschen Frau kein Wort mehr aus seinem Mund hervorbringt. Dementsprechend starten wir das Game mit einem hohen Grundwert an Logik und visuellem Kalkül, was uns etwa die Rekonstruktion von Tatorten immens erleichert. Alternativ können wir aber auch einen physich starke, dafür aber strunzdumme Hohlbirne steuern. Viele smarte Dialogoptionen sind dann naturgemäßg gesperrt. Aber wer braucht schon Worte, wenn man als Detektiv einfach auch draufhauen kann.
Die verschiedenen Fähigkeiten wollen gut überlegt investiert werden, schließlich gibt es insgesamt 24 von ihnen und jeder einzelne davon ist basierend auf seinem aktuellen Wert ein möglicher Trumpf in der Hand. Skills können alternativ aber auch über Items wie Drogen oder Ausrüstung gesteigert werden. Eine schicke Sonnenbrille verleiht unserem Charakter etwa umgehend einen Boost auf seine Autorität, ein Shirt mit Kinderlogo verringert diesen hingegen.
Alternativ können die Werte auch durch das Aneignen von Wissen verbessert werden. Das schaffen wir, wenn eine unserer 24 Persönlichkeiten uns einen neuen Gedanken an den Kopf wirft. Als das zum ersten Mal passierte, war das für mich persönlich der Moment, wo ich realisiert habe, dass die Stimmen in unserem Kopf auch unsere Charakterwerte darstellen. Da ich den Wert “Schauspielkunst” sehr hochgelevelt habe, hat sich der Künstler in mir auch ständig mit interessanten Infos gemeldet.
Das ist insgesamt ein wahnsinnig spannender Kniff der Entwickler, da man so nicht den Eindruck hat, nur irgendwelche Fähigkeiten zu erhöhen. Wie in der Realität fasst man Gedanken und diese wirken sich auf unsere Handlungen aus. Disco Elysium ist in diesem Punkt ein Musterbeispiel, weil man durch diese verschiedenen Ausprägungen immer nur einen Pfad wirklich beschreiten kann.
In meinem ersten Durchgang habe ich den körperlich degenerierten Logiker gewählt und physisch anspruchsvolle Tätigkeiten war für mich – wenn überhaupt – erst mit Fortdauer des Spiels zugänglich. In einem möglichen zweiten Playthrough könnte ich dann auf einen körperlich starken Polizisten setzen. Die gleich zu Beginn der Handlung präsentierte aber verschlossene Tür kann ich so schon innerhalb der ersten Spielstunde öffnen. Die Folge wird ein komplett anderes Erlebnis der ja eigentlich gleichen Story sein.
Ein anregender Krimiroman
Mit all diesen Infos im Gepäck machen wir uns also auf, einen brutalen Mordfall aufzuklären. Nach einiger Zeit der Befragung zwielichtiger Personen und der Wühlerei im Dreck ist klar, hier ist nichts wie es scheint. Die Stadt Revachol ist von Korruption durchdrungen, ein Streik der Arbeiter führt zu Spannungen zwischen der Gewerkschaft und den Industriellen, gefühlt halt jeder seine Finger im Spiel bei der Sache.
Es liegt an unserem Supercop Licht ins Dunkel zu bringen bevor das Pulverfass eskaliert. So nebenbei bleibt aber natürlich noch genug Zeit uns anderen – ebenso wichtigen Dingen des Lebens – zu widmen. Wir veranstalten einfach einen Karakoke-Abend oder helfen einer völlig fremden Frau ihren nicht verschwundenen Mann zu finden. So nebenbei können wir auch Mitstreiter für unseren Kampf gegen den Liberalismus rekrutieren und die kommunistische Revolution auslösen.
Egal um welche unscheinbare Nebentätigkeit es sich auch handeln mag – Disco Elysium ist zu jedem Zeitpunkt wahnsinnig gut geschrieben. Durch den unverkennbaren Artstil und die wirklich gut vertonten Personen bekommt man zwar ohnehin schon ein gutes Bild in seinen Kopf projeziert. Dennoch lassen einen die Autoren durch ihren Schreibstil immer genug Freiräume, die eigene Kreativität anzustoßen – fast wie in einem guten Buch.
Apropos Buch: obwohl mein Test auf der Playstation erfolgt ist, bin ich der Meinung, dass dieses Game perfekt für die Nintendo Switch gemacht wäre. Durch die Text-lastigkeit des Games wird man dem immer gleichen Spielablauf eventuell nach 1 oder 2 Stunden überdrüssig. Das Spiel im Handheld zu genießen würde diesem Problem noch Abhilfe schaffen. Ein literarisches Meisterwerk genießt man ja auch nicht am Besten am Sofa in klassischer Gamer-Haltung. Gott sei Dank haben die Entwickler und Publisher hier so viel Weitsicht bewiesen, dass Disco Elysium in nächster Zeit noch eine – hoffentlich dann ebenso gute – Umsetzung auf der portablen Konsole bekommt.
Ja, Disco Elysium besteht im Kern nur aus viel Text lesen. Der Zuschauer, der nur den Spieler selbst beobachten würde, kann hier sicherlich nicht nachvollziehen worin der Reiz dieses Titels liegt. Hier spielt sich eben vieles zwischen den Ohren des Zockers selbst ab. Wer eine gute narrative Erzählung will, aber auf ein actiongeladenes Spektakel wie etwa in der Uncharted-Reihe nicht verzichten kann, der ist in der Welt von Revachol sicherlich nicht an der richtigen Adresse. Wem als Bücherwurm die papierenen Werke aber bereits ausgegangen sind, der wird eine weitere Geschichte erleben, die einen so richtig an das Sofa fesselt.
Sinnvolle Updates mit dem Final Cut
Story, Texte, Skillsystem – all das war im Grundspiel von 2019 schon ein wahrer Augenschmaus. Die damalige Versione hatte nur einen großen Haken: das Game war leider nur auf Englisch verfügbar. Bei 90 Prozent der Spiele da draußen wäre das auch kein Problem gewesen, schließlich sind die englischen Begriffe von Stärke und dergleichen bei den Zockern da draußen ja bekannt und der Story konnte man auch schon irgendwie immer folgen.
In einem Spiel, wo mit Fachbegriffen aus diversen Sprachen nur so im Minutentakt um sich geworfen wird, stößt das allerdings schon auf ein gewaltiges Problem. Disco Elysium war ob der sprachlichen Barriere zu seinem Release 2019 einfach für ein breites Publikum unzugänglich. Mit der Veröffentlichung des finalen Cuts wurde dieser Makel nun behoben. Eine der wichtigsten Features der überarbeiteten ist nämlich, dass sämtliche Texte und Screens auch ins Deutsche übersetzt wurden – und das auch wirklich ordentlich.
Die Vertonung bleibt zwar nach wie vor komplett auf Englisch, ist aber im Kern brilliant umgesetzt. Aus den Sprechrollen der einzelnen NPCs kann man ihre Charakterzüge teilweise förmlich heraushören. Zudem wurden Audios für bisher nicht vertonte Personen hinzugefügt. Ebenso wurden Quests hinzugefügt, was das Spiel nun zu einem sehr umfangreichen Game im Ausmaß von ca. 50 Stunden pro Durchgang macht. Umfang ist per se ja noch kein Qualitätsmerkmal. Hier fügt sich jede zusätzliche Zeile aber harmonisch in das Gesamtbild ein und befindet sich auf dem gleichen hohen Niveau wie die Basis-Inhalte.
Den vollständigen News-Bericht zu den neuen Inhalten des Final Cuts findet ihr übrigens unter folgendem Link.
Abzüge in der B-Note
Mit all seinem Glanz wäre Disco Elysium The Final Cut eigentlich ein Kandidat für eines der besten Rollenspiele aller Zeiten. Dafür hat der Titel aber dann doch auch zu viele Schwächen – zumindest was die Playstation-Version betrifft. Während meiner umfangreichen Spielzeit kam es immer wieder zu Abstürzen der Software. Da bin ich normalerweise sehr verzeihlich. Das Problem potentiert sich jedoch mit einer ganz anderen grundlegenden Thematik des Games.
Disco Elysium verfügt nämlich nur über eine sehr sparsam eingesetzte automatische Speicherfunktion. Das führt dazu, dass man als Spieler dazu angehalten ist, vor oder nach jedem Gespräch mit einem NPC – die auch gerne einmal 30 Minuten der Echtzeit in Anspruch nehmen können – manuell zu speichern. Wenn man aber so richtig in die Story und die Welt hineingezogen wird, vergisst man das aber auch schnell einmal.
Das Spiel stürzt bei mir beispielsweise also im Ladescreen ab, nachdem ich zuvor 4 Quests abgeschlossen habe und die aus den Level-Ups gewonnen Punkte in verschiedenster Weise investiert habe. Zack! 1 Stunde Spielfortschritt ist dahin. Das führte bei mir wiederholt zu frustrierenden Momenten, woraufhin ich das Spiel einmal für ein paar Stunden pausierte. Solche Szenarien wären in meinen Augen durchaus vermeidbar gewesen.
The Final Cut Review Fazit
Wer jemals in Abrede gestellt hat, dass Games genauso spannende Geschichten erzählen wie Bücher, dem muss nur einmal Disco Elysium vor Augen geführt werden. Das Rollenspiel ist das digitale Equivalent eines literarischen Bestsellers. Im Game von ZA/Um – und speziell jetzt eben im Final Cut – ist keine Zeile Text dem Zufall überlassen, keine Silbe grundlos betont.
Die Autoren nehmen uns mit auf eine wahnwitzige Reise in eine verdorbene Welt, das verdrehte Unterbewusstsein unseres Protagonisten ist genauso Realität wie die zerbombten Betonblöcke der verkommenen Stadt. Im selben Atemzug wird aber auch viel Raum für eigenen Interpretationen gegeben und unsere Vorstellungskraft wird angeregt – wie das sonst eben zumeist nur bei den besten literarischen Schinken der Fall ist.
Einen Vorteil hat das Medium Spiel an dieser Stelle sogar: wir können selbst entscheiden wie wir unseren Charakter anlegen. Bestreiten wir das Abenteuer als manisch depressiver Zeitgeist der sich voll und ganz dem Alkohol hingibt oder durchschreiten wir die Welt als körperbetonter Hau-drauf-Bulle, der die Liebe zu seiner Berufung wieder entdeckt? Ganz egal, wir haben die Wahl.
Eigentlich müsst man für Disco Elysium The Final Cut (auch auf der PS4) eine uneingerschränkte Empfehlung aussprechen. Die kann es aber leider aus zweierlei Gründen nicht geben. Zum einen ist das Spiel ist sehr textlastig. Wer also sein letztes Buch damals in der Schule angegriffen hat, der kann das tolle Rollenspiel zwar trotzdem gerne anzocken, wird sich aber höchstwahrscheinlich eher durch die Story quälen.
Der zweite Grund ist, dass ZA/UMs Game auf der Playstation 4 noch nicht den allerbesten Eindruck abgibt. Die Steuerung ist etwas hakelig und gelegentliche Spielabstürze führen auch zu einigen Frustmomenten. Spieler, welche mit diesen beiden Minuspunkten aber gut leben können, dürfen und sollen aber gerne zugreifen! Disco Elysium ist und bleibt auch im Final Cut definitiv eines der besten Rollenspiele der jüngeren Gaming-Historie.