Dunkirk Kinokritik: Christopher Nolans 8. Symphonie
Dunkirk ist in vielerlei Hinsicht die Offenbarung des modernen Anti-Kriegsfilms. Christopher Nolans neuester Streich entführt seine ZuseherInnen in ein fesselndes, unbehagliches und sinnesbetäubendes Drama aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Dabei hält sich Dunkirk an die wahren Begebenheiten der Rettungsaktion von Dünkirchen, als im Jahr 1940 über 300.000 alliierte Soldaten evakuiert wurden. Wie sehr mich Dunkirk beeindruckt hat, lest ihr in meiner Kino-Review.
Perspektive 1: Der Strand von Dünkirchen
In Dunkirk liefert uns Christopher Nolan die Schrecken des Krieges aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Gleich in der ersten Einstellung schlüpfen wir in die Rolle des jungen britischen Soldaten Tommy, der mit 400.000 Mitgefangenen von den Deutschen am Stand der französische Küstenstadt Dünkirchen eingekesselt wurde. Als bemerkenswertes Detail sei hier erwähnt, dass Tommy während des gesamten Filmes nur einmal von einer Schusswaffe Gebrauch macht.
Perspektive 2: Die kleinen Rettungsbote
Dann ein schneller Schnitt zurück in die englische Hafenstadt Ramsgate. Dort stechen wir mit Mr. Dawson, seinem Sohn Peter und dessen Freund George in See, um so viele Soldaten wie möglich vom Dünkirchner Strand zu evakuieren. Als eines von über hundert zivilen Booten treten wir die Fahrt ins Ungewisse durch den Ärmelkanal an.
Perspektive 3: Über den Wolken
In der dritten Perspektive begleiten wir den Royal Airforce Piloten Farrier (Tom Hardy) in seiner Spitfire. Während die Luftwaffe den Strand und die britischen Evakuierungsschiffe ins Visier nimmt, liefern sich die Piloten der Alliierten unerbittliche Luftschlachten mit den Deutschen über den Köpfen der eingekesselten Soldaten. Die Luftkriegs-Szenen erinnern noch am ehesten an einen traditionellen Kriegsfilm, da Nolan darin auch auf gängigen Metaphern wie das Zielfadenkreuz und rauchende Turbinen nach Treffern zurückgreift.
Die drei unterschiedlich langen, asynchronen Handlungsstränge sind auf so clevere und elegante Weise miteinander verwoben, wie es nur ganz wenige Hollywood-Regisseure zu Wege bringen vermögen.
Ein einzigartiger Nolan Film
Diesmal ohne Plot-Twist
Irgendwie wartet man bei einem Nolan-Film bereits automatisch auf einen alles verändernden Plot-Twist. Fans von Inception, Interstellar oder Memento wissen, wovon ich spreche. Dunkirk ist nicht zuletzt deshalb einzigartig, weil er mich vergeblich warten lässt. Dieses Spiel mit der Erwartungshaltung ist ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal von Dunkirk, und zugleich das Schicksal, welches die ZuseherInnen mit seinen Figuren teilen. Die Bestie Krieg lässt sich einfach nicht durch ein ausgetüfteltes Drehbuch geradebiegen. Dinge lösen sich nicht auf wundersame Weise in Wohlgefallen auf, und auch das Happy End kann nicht so ohne weiteres herbeigeschrieben werden.
Ohnmacht statt Pathos
Ein Interessanter Ansatz für ein historisches Ereignis, das förmlich nach Selbstbeweihräucherung und übertriebenem Pathos lechzt. Wo ein Steven Spielberg die Kamera in Saving Private Ryan möglichst nah und ungeschönt an die Action ran bringt, quält Nolan sein Publikum lieber mit extrem langen Einstellungen, Kamerafahrten und einer ohrenbetäubenden Soundstage. Anstatt dem Zuseher durch eine aufgeregte Steady-Cam zum Soldaten zu machen, schafft es Dunkirk von Minute eins an ein hoffnungsloses Gefühl der Ohnmacht zu vermitteln. Nolan liefert seinen Figuren kaum Projektionsflächen für ihre Ängste. Der Feind wird nur schemenhaft, teils in Form von Geräuschen oder Lärm angedeutet, nie jedoch direkt gezeigt.
Stilmittel: Krach und analoge Bilder
Wesentliche Triebfedern für diese unbequeme Dauer-Anspannung sind die opulenten Bilder, die Nolans 70 mm Analogfilm-Kameras von dem weitläufigen Dünkirchner Strand einfangen, sowie der bombastische Score von Oscar-Preisträger Hans Zimmer. Lautes Hämmern auf Metallrohre, dröhnende Flugzeug-Motoren, einschlagende Schrapnelle und das fortwährend hektische Ticken einer Uhr vermengen sich mit gezerrten Streichinstrumenten und Percussions zu einem akustischen Gesamtkunstwerk. Die Verschmelzung von Bild und Ton hatte Nolan bereits in Interstellar zum Leitmotiv erhoben, seine Meisterprüfung liefert er aber erst mit Dunkirk ab. Als am Ende des Films das tickende Uhrengeräusch endlich verstummt, ertappt man sich dabei in Kino laut aufzuatmen, und spürt förmlich, wie die Anspannung von einem abfällt.
Fazit zur Dunkirk
Besser als Apocalypse Now
Dunkirk ist kein lockerer Sommer-Blockbuster, den man sich zur Erheiterung mal eben zwischendurch ansieht. Der Film fordert die Bereitschaft seines Publikums ein, sich auf sein Thema einzulassen. Er verlangt von seinen ZuseherInnen, in die ölverschmierte und geschundene Haut seiner Figuren zu schlüpfen, und 107 Minuten nackten Überlebenskampf über sich ergehen zu lassen. Wenn man dieses Wagnis einzugehen bereit ist, wird Dunkirk zum fesselndsten und beeindruckendsten Anti-Kriegsfilm seit Apocalypse Now. Vielleicht sogar noch eine Spur besser!