Pokémon Schwert und Schild im Test
Stumpfe Waffen eines Giga(dynamax)-Franchises?
Um gleich einmal mit einer schlechten Metapher einzusteigen: Game Freak hätte in den letzten Wochen rund um den Release der neuen Pokémon-Hauptspiele Pokémon Schwert und Schild ebenjene ganz gut gebrauchen können. Ein widerstandsfähiges Großschild nämlich, dass das Entwicklerstudio vor den zahlreichen Frontalangriffen wütender eingefleischter Pokémon-Fans geschützt hätte. Und ein messerscharfes Schwert dazu, mit dem man Kritiker durch plausible Argumente in die Schranken hätte weisen können.
Zumindest ausgeteilt hat Game Freak ja trotzdem recht ordentlich an seine treue Anhängerschaft. Was? Man kann im ersten Pokémon-Hauptspiel, das für die Nintendo Switch erscheint, nur 400 der mittlerweile 890 verfügbaren Pokemon fangen? Sauerei! Z-Attacken und Mega-Entwicklungen wurden gestrichen? Dafür sind die Pokémon nun zeitweise richtig, richtig groß und verändern sogar ihr Aussehen? Come on, Game Freak! Das kann doch eigentlich kein guter Titel werden, wenn einem sein persönliches Signature-Taschenmonster nicht während der Reise ständig hinterherläuft, sondern sich dieses immerzu brav in seinem Pokéball aufhält! Oder?
Ob ich – ein Pokémon-Fanboy der ersten Stunde – mit den zahlreichen Hatern d‘accord gehe oder ob die neue achte Generation des erfolgreichsten Franchise der Popkultur nun doch etwas taugt, erfahrt ihr in diesem Test.
Anwärter für das Game of the Year 2003
Wie ich oben bereits erwähnt habe, bin ich ein Kind der ersten Pokémon-Generation. In meinem Fall heißt das, meine Kindheit bestand zu 30% aus Schule, zu 5% aus Hausaufgaben und zu geschätzten 65% aus Süchteln der Pokémon-Editionen Rot, Kristall, Rubin, Smaragd sowie dem Nintendo-Game Cube-Ableger Pokémon Colosseum. Die weiteren Generation IV bis VII habe ich hingegen gar nicht, bis nur sporadisch angespielt.
Hauptgrund: die Hauptstory „der 10 jährige Justus bricht die Schule ab um der größte Trainer aller Zeiten zu werden“ war mir, gerade nach dem von Genius Sonority und nicht von Game Freak entwickelten Colosseum, mittlerweile zu ausgelutscht. Ebenso konnte ich mich für die immer wieder brandneuen und genauso hässlichen Monster-Neuzugänge nicht begeistern. Auf Allstars wie Gengar und Turtok folgte etwa Deponitox, eine umherwandernde Mülldeponie. Enough said… Schwert und Schild musste ich mir dann aber doch aufgrund der Möglichkeit es auf der Switch zu spielen und meinem viel zu lange andauernden, langjährigen Pokémon-Entzug, holen. Von Beginn an machten sich gemischte Gefühle in mir breit.
Pokémon Schwert fühlt sich an wie eine Mischung aus klassischem Hauptspiel der Reihe und dem angesprochenen Colosseum. Man hat wieder die Auswahl zwischen 3 verschiedenen Startern und macht sich mit diesem dann auf, die acht Orden zu erlangen. Als Schauplatz der Gefechte dienen diesmal aber gigantische Arenen, Fußballstadien gleichend. Trainer variieren öfter, was ihre mitgeführten Mitstreiter angeht, was dazu führt, dass man nicht jedes Mal schon vor Kampfbeginn das Pokémon mit Typenvorteil an die Spitze des eigenen Teams stellt.
Vom Start weg bekommt man außerdem selbst die Möglichkeit sich ebenjenes breit gefächert auf die Beine zu stellen. Man erreicht die sogenannte Naturzone schon recht früh im Spiel, wodurch man nach ca. drei Stunden Spielzeit schon eine Gang bestehend aus Pokémon der Typen Feuer, Wasser, Pflanze, Unlicht, Flug, Kampf, Geist, Eis, Gestein, Fee, Elektro usw. beisammen haben kann, wenn man denn auch will.
Dank des automatischen EP-Teilers erhalten nun alle Teammitglieder Erfahrungspunkte nach Kämpfen, auch wenn diese gar nicht am Geschehen teilgenommen haben. Wie mühselig war das doch damals, als man sein bevorzugtes Pokémon an die Spitze des Zugs packen musste und nach Kampfbeginn ausgetauscht hat, um es bei Konfrontationen mit stärkeren Gegnern mitleveln zu lassen.
Ein vollständiges, dabei aber komplett unterschiedliches, Pokémon-Team hatte man in der Regel in den vorhergehenden Generationen auch erst nach vergleichsweise sehr viel längerer Spielzeit. Das sind allesamt Charakteristiken die Pokémon Schwert und Schild mit dem 2004 erschienenen Colosseum gemeinsam haben, ebenso wie die Steuerung, die Kameraperspektive, die Grafik, sowie die allermeisten Animationen. So wäre Pokémon Schwert eigentlich ein Kandidat für das Game of the Year 2003, hätten wir nicht schon das Jahr 2019!
Dass mich diese Punkte zumindest teilweise nicht wirklich gestört haben liegt daran, dass Pokémon-Spiele noch nie grafische Wunderkinder waren, und deren Fokus immer auf etwas anderem lag, nämlich dem Sammeln und dem Kämpfen der Taschenmonster. Widmen wir uns also im Detail diesen beiden Key-Points der Spielereihe.
Einfache Ungleichung: 400 > 890
Die 1% der Pokémon-SpielerInne, die es sich zur Aufgabe gemacht haben in jeder Edition alle bisher erschienenen Taschenmonster zu fangen, werden Schwert und Schild verfluchen, insofern sie nicht noch immer damit beschäftigt sind, die 800 verschiedenen Monster aus Pokémon Sonne und Mond in Shiny-Form zu ergattern. Für alle anderen SpielerInne sind die 400 verfügbaren Arten aus Schwert und Schild mehr als ausreichend. Tatsächlich war ich überrascht, wie viele verschiedenen Exemplare ich schon nach wenigen Spielstunden in der Tasche hatte, und wie viele, die ich zuvor im Spiel noch gar nicht gesehen hatte, durch Tauschgeschäfte dann noch dazukamen.
Einziger Kritikpunkt am Galar-Pokédex von meiner Seite ist die tatsächliche Auswahl aus dem mittlerweile fast 900 Pokémon umfassenden Pool an Monstern. Fan-Lieblinge wie Pikachu müssen natürlich immer am Start sein und auch Klassiker wie Raupy oder Karpador gehören einfach in das Repertoire. Allerdings sind mir diesmal einfach auch zu viele Pokémon dabei, die man sich nach dem Fang ins Regal oder wie hier in den PC stellt und anschließend nie wieder anrührt.
Dazu gehört das bereits erwähnte Deponitox ebenso wie das Galar-Mauzi oder mein absoluter Platz 1, wenn es um das hässlichste Pokémon in Galar geht, die Bärenfalle Flunschlik. Auf die hätte ich gut und gerne auch verzichten können, zumal keines davon aus der neuen Generation stammt. Diese hat mit Lauchzelot, Krarmor oder Zwollock auch ein paar Lichtblicke zu bieten. Generell fehlen mir aber vermehrt Pokémon vom Kaliber eines Shiggy/Turtok. Dann wäre man auch eher gewillt, verschiedenste Arten für längere Zeit mit sich zu führen. Ein Flunschlik wird es wohl kaum in irgendein Team dieser Welt schaffen .
Trouble in Poké-London
Negativ ist mir gleich in den ersten Stunden des Spiels aufgefallen, dass einem während des Gefechts die Attacken des eigenen Mitstreiters angezeigt werden, welche sehr effektiv gegen das feindliche Pokémon sind. Auf den ersten Blick erscheint das als nicht weiter schlimm, allerdings lernt man so über die einzelnen Arten auch nichts neues dazu, es wird einem ja ohnehin alles vorgekaut.
Wo ich für alle Pokémon der ersten Generation noch alle ihre Typen auswendig lernen musste, einfach weil es für den Kampf unschätzbar wertvoll war, kann ich mich bei vielen der neuen Monster gegen die ich in den letzten Tagen angetreten bin nicht mal mehr an den Namen und somit auch nicht an deren Typen erinnern. Eine taktische Komponente geht somit leider komplett verloren. Abhilfe kann hier auch das neu eingebaute Dynamax-Phänomen nicht schaffen, welches zwar schick präsentiert wird, aber dennoch eher ein Story-Gimmick darstellt als eine wirkliche strategische Komponente in einem fast schon verloren geglaubten Zweikampf.
Wie schwierig sich Kämpfe mitunter gestalten, hängt sowieso zu einem Großteil davon ab wie ausgeprägt man seiner Sammelleidenschaft zuvor gefröhnt hat. Beschränkt man sich in seiner Auswahl auf die klassischen 6 Teammitglieder, wird man relativ schnell overpowern, eine Herausforderung sucht man so vergebens. Versucht man hingegen alles einzufangen, was nicht bei 3 auf den Beerenbäumen ist und will seine gesamte Armada dann im Kampf auch noch ausprobieren, kann es schon einmal brenzliger zugehen.
Wie noch bei jedem Pokemon-Hauptspiel gilt also: den Schwierigkeitsgrad legt man weitestgehend selbst fest. Zumindest bis man sich ins „London“ der Gala-Region begibt (und wir uns somit auch in Spoiler-Territorium begeben).
Nur ein Satz kurz Vermarktung der Gala-Region als Großbritannien: bis auf die Backsteinhäuser, das Stonehenge-Pokémon Humanolith und das Einbauen englischer Fußballkultur lässt in mir nie wirklich das Gefühl aufkommen, mich hier in England oder Schottland zu befinden. Einzig und allein die Endgame-Metropole Score-City erkenne ich als London wieder und bin gleichzeitig überrascht wie sehr der Schwierigkeitsgrad ab hier anzieht.
Wo ich selbst beim 8. Arenakampf wenig Wert auf taktische Anordnung meiner Pokemon im Kampf oder das Heilen der selbigen legen musste, zwang mich das Spiel ab diesem Zeitpuntk meine weiteren Schritte sorgfältiger zu planen. Zwar sind die Auseinandersetzugen immer noch meilenweit davon entfernt wirklich anspruchsvoll zu sein, allerdings ging in den finalen Kämpfen schon einmal eins meiner Level 60-Veteranen K.O. und ich musste meine nächsten Schritte planen.
Hinzu kommt noch ein zwar etwas vorhersehbarer Twist in der Story, der aber zumindest die wahren Bösewichte der Galar-Region offenbart, welche gegen Ende der Story noch ein paar zusätzliche interessante Duelle liefern. Team Yell wurde diesem Anspruch bis hierhin nie auch nur ansatzweise gerecht.
Am Ende konnte ich dann – mehr oder weniger souverän – den Liga-Champ Delion besiegen und zwischendurch blieb sogar noch etwas Zeit die Welt vor der apokalyptischen „Finstren Nacht“ zu erretten. Das alles wäre ohne die unzerstörbaren Bande der Freundschaft zwischen mir und meinen Pokemon niemals möglich gewesen. Und natürlich gilt mein Dank auch der nervigen Quasselstrippe Hop, mein Rivale, der mich immer wieder zu Höchstleistungen angestachelt hat.
Pokémon Schwert bringt ein Stück Kindheit zurück
Die altbackene Pokémon-Formel funktioniert noch immer tadellos! Ich hab für die Hauptstory ca. 30 Spielstunden aufgewendet, mit ein paar Ausflügen in die Naturzone zwischendurch inklusive Austesten der Online-Kampf- und Tauschfeatures. Trotzdem gibt es für mich in der Galar-Region immer noch so viel zu tun! Ich habe beispielsweise „erst“ 112 der insgesamt 400 möglichen Pokémon gefangen. Der legendäre Wolf Zacian steht dabei etwa ganz oben auf meiner Fang-Todo-Liste. Ebenso wollen weitere Teile der Galar-Region mit besserer Ausrüstung und stärkeren Begleitern noch einmal genauer erkundet werden.
Anders als etwa im auch gerade erst für die Nintendo Switch erschienen The Legend of Zelda: Links Awakening bin ich auch motiviert, diesen Extra-Content in Angriff zu nehmen und noch einmal 30 Stunden in das Game zu investieren. Ausschlaggebend ist dabei sicherlich auch die dabei perfekt auf Pokémon-Titel zugeschnittene Handheld-Funktionalität der Switch. Das Tauschen, Fangen und Leveln der Taschenmonster während man sich in der Bahn befindet oder einfach nur relaxed auf dem Sofa gammelt, funktioniert perfekt wie in den besten Game Boy-Zeiten. Da hab ich bei Pokémon Schwert und Schild auch persönlich mehr Bock darauf als etwa bei einem The Legend of Zelda: Breath of the Wild, wo ich die wunderschönen Panoramen lieber auf dem großen Bildschirm genießen will.
Hier wurde ein Stück Kindheit zurück in den grauen, verregneten Novemberalltag gebracht. Ich hoffe Game Freak, die Pokémon-Company und Nintendo finden bei all der derzeitgen Kritik Zeit zu rekapitulieren, was diesmal vielleicht nicht so toll umgesetzt wurde und wie sich Pokémon in der Zukunft präsentieren könnte. Vielleicht wäre es mal wieder an der Zeit ein anderes Entwicklerteam an diesem großen, nein gigadynamaxischen Franchise mitwirken zu lassen? Dann hätten wir vielleicht wirklich einen Anwärter auf den Titel “Game of the Year” 2020.
gerne dab ei